Putin / Trump

Die Ausgangsbedingungen könnten unterschiedlicher nicht sein, das Resultat ist absehbar. Aber einen Verlierer von Helsinki wird es nicht geben.

Nach fast anderthalb Jahren treffen sich Vladimir Putin und Donald Trump endlich zu einem ‘richtigen’ Gespräch. Der Sieger dieses Zweiergipfels steht schon lange fest – aber Russlands Präsident wird nicht den Fehler machen, seinen US-Kollegen bloßzustellen und ohne vorzeigbares Ergebnis nach Washington zurückzuschicken.

Die Protagonisten trennen Welten

In den letzten Wochen konnte Putin eine Reihe wichtiger diplomatischer Erfolge verzeichnen. Bei seinem Russland-Besuch bestätigte Israels Premier Netanyahu den absehbaren Deal: Tel Aviv akzeptiert, dass Assad in Damaskus an der Macht bleibt, wenn der Iran sich militärisch aus Syrien zurückzieht. Indem Moskau diesen Ausgang sicherstellt, etabliert es sich endgültig als wichtigste Ordnungsmacht und ‘power broker’ im Mittleren Osten.

Das quasi-Bündnis mit den erdölproduzierenden Staaten (“OPEC plus”) hält, trotz aller Versuche nicht zuletzt Trumps, es totzusagen und zu spalten. Im Umgang mit dem Iran und Nordkorea wird Moskau als ‘Stimme der Vernunft’ wahrgenommen und findet weltweit offenen oder stillschweigenden Zuspruch, auch in Europa. Die Fußball-Weltmeisterschaft ist da nur das Sahnehäubchen auf der Welle aus Anerkennung und Erfolg, die Putin nach Helsinki trägt.

Für Donald Trump hingegen kommt der Gipfel eher einem Gang nach Canossa gleich, ähnlich dem Besuch des damaligen Außenministers John Kerry in Sotschi im Mai 2015. Der von ihm angezettelte “Handelskrieg” mag bei seinen Wählern bisher populär sein – international ist der “mächtigste Mann der Welt” dabei, sein Land komplett zu isolieren.

Der NATO-Gipfel diskutierte über Geld und den eigenen Fortbestand, womit sich das Militärbündnis global zum Gespött machte. Nur mit offenen Drohungen konnte Trump die Verbündeten zu (bereits lange beschlossenen?) Finanzzusagen bewegen. Selbst die enge außenpolitische Partnerschaft mit Großbritannien scheint er angesichts von Theresa Mays ‘weichem’ Brexit in Frage zu stellen. Und wie lange die innenpolitische Seifenoper um angebliche “russische Einflussnahme” bei seiner Wahl noch andauern und die US-Politik lähmen soll, steht in den Sternen.

Das wahrscheinliche Gipfelergebnis werden beide als Erfolg ausgeben können

In Helsinki werden die beiden Präsidenten vor allem das bestätigen, was Netanyahu und Putin bereits vereinbart haben. Trump wird den absehbaren Abzug des iranischen Militärs aus Syrien als seinen Verhandlungserfolg ausgeben. Der Preis dafür ist die faktische Anerkennung von Assads Machtanspruch über das Land – und damit mittelfristig das Ende der US-Präsenz dort, für die es dann keinerlei Legitimation mehr gibt.

Auch auf anderen Politikfeldern könnte es dank sich überschneidender Interessen durchaus eine Annäherung geben. Trump fordert immer wieder lautstark, der Ölpreis müsse sinken – damit könnte Moskau sich wohl anfreunden, da es die weltweite De-Dollarisierung beschleunigen würde. Beide wollen Entspannung und auf längere Sicht Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Beide sind skeptisch gegenüber der EU und hofieren europäische Rechtsaußen-Parteien. Und selbstverständlich sind sich beide einig, dass bei Trumps Wahl zum Präsidenten alles mit rechten Dingen zuging. Eigentlich gute Voraussetzungen für ein erfolgreiches, ach was: das großartigste, erfolgreichste und historischste Gipfeltreffen aller Zeiten. Jedenfalls wenn man Trump fragt.

Verlierer von Helsinki werden die Neocons in Washington, London und anderswo sein – und die US-Finanzwirtschaft, sollte der Gipfel mittelfristig tatsächlich den Ölpreis fallen lassen.

Russlands Diplomatie und Israels Interessen

Die jüngsten Militäraktionen sind kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche. Es wäre ebenso gefährlich wie dumm, Tel Avivs strategische Interessen zu übergehen.

Update zur weltpolitischen Lage, Teil I

Nach der Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem und dem Massaker an palästinensischen Demonstranten am 14. Mai ist die weltweise Empörung groß. Berechtigterweise, keine Frage – doch die Aufregung über diese offenkundigen Skandale versperrt den Blick auf dahinterliegende Entwicklungen. Letztlich ist auch Israel ein Teil des geostrategischen Puzzles Mittlerer Osten, und refektieren die sichtbaren Ereignisse tiefergehende Umbrüche im regionalen Kräfteverhältnis.

Seit 2011 bemühen sich die Neocon-Strategen (d.h. nicht ‘die’ US-Außenpolitik oder ‘die’ Saudis), eine Eskalation zwischen den Regionalmächten rund um Syrien herbeizuführen. Ein größerer Krieg würde es ihnen ermöglichen, als lachender Dritter zuzusehen, wie sich die beteiligten Staaten in einem Abnutzungskrieg gegenseitig schwächen. Da mindestens eine Seite sie um Unterstützung bitten würde, wäre ihr Einfluss im Mittleren Osten gesichert – selbst bei einem (weitgehenden) Rückzug des US-Militärs. Früher hieß das ‘verbrannte Erde’, heute ließe sich eher von einer ‘Strategie der Spannung’ sprechen.

Anfangs sah es so aus, als könnte die ‘dschihadistische Internationale’ mit verdeckter westlicher und saudischer Unterstützung die syrische Regierung zu Fall bringen. Damit wäre die aufstrebende Mittelmacht Iran empfindlich geschwächt, ihre regionale Hegemonie bis auf Weiteres verhindert. Nach dem Eingreifen Moskaus im Herbst 2015 wurde erfolglos versucht, einen Krieg zwischen der Türkei und Russland herbeizuführen. Da sich auch Saudi-Arabien mit der absehbaren Niederlage abzufinden scheint, anstatt selbst militärisch einzugreifen, wird als letzte Regionalmacht jetzt Israel in Stellung gebracht.

Hauptsache Krieg – wer gegen wen ist egal

Die kalkulierte Eskalation in der Hoffnung auf eine Überreaktion der Gegenseite hat in Syrien System – auf beiden Seiten. Den Neocons scheint es nicht so wichtig zu sein, wer genau gegen wen in den Krieg zieht, solange es zu einer Konfrontation und verschärften Blockbildung zwischen USA und Europa auf der einen, Russland und Iran auf der anderen Seite führt. Ob Donald Trump dies versteht oder ob er lediglich ‘stark’ erscheinen und außenpolitisch punkten will, sei dahingestellt.

Glücklicherweise ist bisher kein Staat der Region bereit, sich zugunsten der Neocon-Geostrategie ‘verheizen zu lassen’. Ankara hatte ohne NATO-Unterstützung verständlicherweise wenig Interesse an einem Krieg und zog es vor, sich mit Moskau abzustimmen. Benjamin Netanjahu mag ein skrupelloser Nationalist sein, aber er ist keineswegs dumm. Mit der Regionalmacht Iran kann er sich militärisch anlegen, mit der Groß- bzw. Weltmacht Russland nicht. Können Russen und Europäer auch dieses Mal die Kuh vom Eis holen?

Ordnungsmacht und regionale Akteure – ein schwieriges Verhältnis

Seit einigen Jahren ist Moskau bemüht, sich im Mittleren Osten als neue Ordnungsmacht zu etablieren. Um damit Erfolg zu haben, muss es die Interessen aller regionalen Mächte berücksichtigen und bestmöglich austarieren. Dazu gehört auch, den eigenen Verbündeten Grenzen aufzuzeigen, etwa wenn diese Israel und die USA bewusst provozieren, um moderne russische Waffen geliefert zu bekommen.

Erdogans wichtigstes Ziel und ‘Rote Linie’ war und ist es, die Entstehung eines Kurdenstaats entlang der türkischen Südgrenze zu verhindern. Um dieses Minimalziel zu erreichen, hat er Moskaus Konditionen für den Einmarsch seiner Armee in Syrien akzeptiert. Analog zeigt sich heute, was Tel Avivs wichtigstes Minimalziel im Syrienkonflikt ist: Die Verhinderung einer dauerhaften iranischen Militär-Präsenz in dem Land, mit der Teheran dauerhaft strategische Tiefe gewinnen würde. Es ist anzunehmen, dass Netanjahu genau darüber mit Putin gesprochen hat bei seinem Besuch der großen Siegesparade am 9. Mai in Moskau.

Der russische Präsident ist offensichtlich der Einzige, der ihm bei der Erreichung dieses Ziels helfen kann – auch das eine Parallele zu Erdogan. Moskau kann und wird Druck auf Teheran und Damaskus ausüben, die iranischen Truppen schrittweise aus Syrien abzuziehen. Im Gegenzug erwarten diese, dass die US-Armee ebenfalls schrittweise abzieht, beginnend mit Manbij und al-Tanf. Mit ihrer Luftunterstützung und der geplanten Lieferung von S-300-Abwehrraketen verfügen die Russen über ausreichende Druckmittel, um etwaige syrische Bedenken ‘auszuräumen’ und den Israelis in dieser Angelegenheit entgegenzukommen. Damit kämen sie ihrem Ziel, die USA als regionale Ordnungsmacht abzulösen, einen großen Schritt näher.

Eine neue Realität, ein neuer Mittlerer Osten

Benjamin Netanjahu und seine Regierung werden sich daran gewöhnen müssen, dass die Zeit risikoloser Vergeltung bzw. Luftangriffe auf Nachbarstaaten vorbei ist. Dafür kann er den Abzug der iranischen Truppen aus dem Nachbarland als politischen Erfolg verbuchen, den die israelische Öffentlichkeit mit Sicherheit honorieren wird. Mittelfristig wird eine Friedenslösung mit den Nachbarstaaten auf der Grundlage eines neuen strategischen Gleichgewichts möglich. Es gibt in Tel Aviv genug weitsichtige und kompromissfähige Köpfe – und wer weiß, vielleicht ist der Hardliner Netanjahu ja genau der Mann, der die Israelis mit dieser neuen Realität versöhnen kann?

Für die Amerikaner kaschiert der ‘Erfolg’ des unilateralen Umzugs der Botschaft den zunehmenden Bedeutungsverlust in der Region. Die Europäer werden sich mit diesem Regelverstoß abfinden und könnten Washington auch öffentlich entgegenkommen, was dessen neuerliche Konfrontation mit Teheran angeht – vorausgesetzt der US-Rückzug aus Syrien leistet einen Beitrag zur Entspannung. Die einzige ausländische Macht, die das Land nicht verlassen muss, ist Russland. Über kurz oder lang führen alle Wege der Mittelost-Diplomatie nach Moskau.

Keine Einigung in Doha – wirklich?

Das mit Spannung erwartete “OPEC-plus”-Treffen am letzten Sonntag hat kein Ergebnis hervorgebracht, so zumindest die offizielle Version. China reibt sich die Hände.

Dieser Artikel ist die Fortsetzung von „Dreiecksdiplomatie und große Zaubershow“ vom 15. April.

Nachdem die Abschlusserklärung des OIC-Gipfels in Istanbul von einer stark anti-iranischen Rhetorik geprägt war, hat Teheran die Öl-Gespräche im katarischen Doha faktisch boykottiert und Riad seine Drohung wahrgemacht, in diesem Fall keiner Deckelung der Förderung zuzustimmen. Am 15. April hat die New York Times, sicher nicht ohne Absprache mit der Regierung, den Druck noch einmal erhöht, indem sie die saudische Drohung mit dem Verkauf von US-Staatsanleihen im Fall der Legalisierung von 9/11-Prozessen gegen das Land veröffentlicht hat.

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Dreiecksdiplomatie und große Zaubershow

In dieser Woche scheinen die Zeichen im Mittleren Osten auf “grand bargain” zu stehen. Ob er erfolgreich ist, werden wir nach den Doha-Ölgesprächen am Sonntag wissen.

Wenn der heute beendete OIC-Gipfel in Istanbul die verfeindeten Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien einander nähergebracht hat, macht das auch Fortschritte bei den Genfer Syrien-Verhandlungen wahrscheinlicher. Möglich macht dies vermutlich der derzeitige “subtile” US-amerikanische Druck auf Riad, der sich für Washington in Form höherer Ölpreise bezahlt machen könnte – sehr zur Erleichterung der Energie- und Finanzwirtschaft. Dass im Zuge dessen die Ukraine und Libyen neue Regierungen bekommen und im Jemen eine diplomatische Lösung näherrückt, wird da fast zur Nebensache.

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Irgendwie Demokratie

Die Wahlen zu Parlament und Expertenrat im Iran entsprachen sicher nicht westlichen Vorstellungen von Demokratie. Aber wie grundlegend anders ist unser politisches System?

Am vergangenen Freitag waren 55 Millionen IranerInnen zur Wahl aufgerufen, und auch wenn erst die Stichwahlen im April Klarheit über die kommenden Mehrheitsverhältnisse unter den 290 ParlamentarierInnen bringen werden, so ist doch die Tendenz klar: Die dem Präsidenten nahestehenden “ReformerInnen” haben deutlich dazugewonnen, die konservativen “Prinzipientreuen” hingegen Sitze verloren.

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Irgendwie Frieden

Trotz mancher Skepsis öffnet die Feuerpause tatsächlich den Weg zu einem dauerhaften Frieden. Und sie markiert die Kapitulation westlicher Politik im Mittleren Osten.

Seit Samstagmorgen Null Uhr schweigen die Waffen in Syrien, nachdem im letzten Moment noch der UN-Sicherheitsrat Grünes Licht für die russisch-amerikanische Vereinbarung gegeben hatte. Russland hat angekündigt, seine Angriffe für 24 Stunden auszusetzen: Damit soll den „gemäßigten Rebellen“, die sich an der Feuerpause beteiligen, die Möglichkeit gegeben werden, sich von den Islamisten von al-Nusra und IS abzusetzen in die vereinbarten Gebiete, die nicht bombardiert werden sollen, wo sie sich auf Verhandlungen mit der Regierung vorbereiten können. Der Krieg gegen die radikalen Dschihadisten hingegen wird weitergehen, und er wird schnell und hart sein: Denn diese bekommen immer weniger Unterstützung aus dem Ausland, und nicht wenige von ihnen dürften sich nun den Bart abrasieren und die Fahne wechseln.

Ein Wunder? Vielleicht, aber ein vorhersehbares.

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Prügelknabe Erdogan

Alle sind sich einig: Die Türkei ist der unberechenbare Aggressor in Syrien, und ohne ihren megalomanischen Präsidenten wäre der dortige Krieg leicht in den Griff zu bekommen. Wenn es doch so einfach wäre.

Welche Wahl hat Erdogan noch? Nicht nur seine AnhängerInnen in der Türkei erwarten von ihm, dass er seinen markigen Worten nun Taten folgen lässt und in den syrischen Krieg eingreift. Doch dürfte ihm und seinen Beratern klar sein, dass diese Mission ebenso schmerzhaft wie aussichtslos wäre. Könnte es sein, dass genau darin das Kalkül der Attentäter von Ankara und ihrer Hintermänner besteht: Die Türkei und Russland in ein langwieriges Kräftemessen zu verwickeln, um sie so strategisch zu neutralisieren?

Seit einer Woche halten Ankara und Riad die Welt in Atem: Planen sie tatsächlich einen Einmarsch nach Nordsyrien? Die Saudis haben angekündigt, dass sie sich mit Spezialkräften an einer US-geführten Invasion beteiligen würden, und die Türken beschießen, vermeintlich in Vorbereitung eines Einsatzes von Bodentruppen, seit Samstag Stellungen von Kurden und syrischer Armee nördlich von Aleppo mit Artillerie und angeblich auch Kampfflugzeugen. Derweil verkünden die Europäer, dass sie Ankara nicht in einem selbstverschuldeten Krieg unterstützen würden, während Washington sich diplomatisch zurückhält.

Der schwere Anschlag mit einer Autobombe in Regierungsviertel von Ankara am Mittwoch- abend, dem mindestens 28 Soldaten zum Opfer fielen, setzt Erdogan unter Zugzwang: Er hat sich schnell auf einen Schuldigen festgelegt; angeblich sei die Bombe von einem der YPG nahestehenden syrischen Kurden dort platziert worden. Die syrische Kurdenmiliz bestreitet dies, und inzwischen hat sich eine radikale Abspaltung der PKK namens “Freiheitsfalken Kurdistans” (TAK) zur Tat bekannt. Die türkische Luftwaffe hat als Reaktion auf den Anschlag erneut PKK-Ziele im Nordirak bombardiert, doch dürfte es in Ankara großen Druck auf die Regierung geben, weitergehende Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen.

Alles scheint damit bereit für den großen Showdown im syrischen Bürgerkrieg: Nachdem Moskau zu Gunsten seines Schützlings Assad eingegriffen hat, könnte sich nun Ankara seinerseits einschalten, anstatt nur über den offenen Grenzabschnitt Waffen und Kämpfer für die diversen Rebellengruppen ins Land zu schleusen. Da Erdogan als größenwahnsinnig und impulsiv angesehen wird, wird ihm auch eine eine direkte militärische Konfrontation mit Russland zugetraut. Doch bei Lichte betrachtet sollte klar sein, wer hier den Sieg davontragen würde, und es drängt sich die Frage auf, ob die türkische Führung das ernsthaft wollen kann. Was wird hier eigentlich gespielt?

Folgenreicher Abschuss oder: Wer zuerst zuckt, hat verloren

Als Ende November die türkische Luftwaffe ein russisches Kampfflugzeug abschoss, hatte die Welt einen neuen Buhmann: Erdogan handele unverantwortlich und bringe damit die Region einem wirklich “großen” Krieg nahe, so der allgemeine Tenor. Die helfende Zuarbeit der US-Militärs, die den Türken den russischen Flugplan übermittelt hatten, änderte nichts daran, dass die NATO ihrem Mitgliedsland in der Folge deutlich zu verstehen gab, dass es für solche Abenteuer keine Rückendeckung der Allianz gibt. Russland nutzte die Gelegenheit sofort und installierte moderne Flugabwehrraketen in Syrien, womit es seine Lufthoheit mindestens im Westteil des Landes festigte.

Auch veröffentlichte Moskau Fotos, die das Ausmaß des IS-Ölschmuggels in die Türkei belegten – spätestens seitdem ist Ankaras Unterstützung für den “Islamischen Staat” und andere radikal-islamische Milizen in Syrien ein allgemein anerkanntes “offenes Geheimnis”. Diese Fokussierung auf Ankaras Rolle im syrischen Krieg hat jedoch die prinzipiell ebenfalls bekannte Unterstützung der Islamisten durch Katar, Saudi-Arabien und – zumindest indirekt – auch die USA aus dem Blick geraten lassen. Auf Kritik an der Türkei können sich plötzlich scheinbar Alle einigen – aber war diese jemals mehr als eine Durchgangsstation, ja ein Werkzeug in diesem Konflikt? Sicherlich haben Armee und Geheimdienst (nicht nur) zugesehen, wie das Land zur Logistik-Drehscheibe für IS und Co. wurde – aber es stellt sich durchaus die Frage, ob Ankara sich dem überhaupt hätte entziehen können, ohne selbst zur Zielscheibe der Terroristen zu werden.

Wem würde Ankaras Kriegseintritt tatsächlich nützen?

Zurück zur aktuellen Eskalationsdynamik. Wer hätte ein strategisches Interesse daran, die türkische Armee in den Kampf um Aleppo hineinzuziehen? Ankara dürfte bewusst sein, dass dies ein Himmelfahrtskommando mit vermutlich desaströsem Ausgang wäre. Ohne die Gewissheit, dieses Mal von den NATO-Partnern unterstützt zu werden, sind damit schwerlich mehr als symbolische Attacken auf das Territorium der Nachbarstaaten zu erwarten. Auf der anderen Seite verspüren auch die syrische Regierung und ihre russischen und iranischen Helfer sicherlich keinen Drang, sich einen weiteren potenten Gegner ins Land zu holen.

Aus Sicht mancher Kurdenfraktionen hingegen könnte es durchaus strategisch zielführend erscheinen, ihren Feind in Ankara in einen Krieg mit einem überlegenen Gegner zu verwickeln: Wenn sich die türkische Armee irgendwann geschlagen aus Syrien zurückziehen müsste, würde das in Ankara zweifelsohne schwere politische Turbulenzen auslösen, in deren Folge die Chancen für eine kurdische Staatsgründung steigen dürften. Könnte am Ende wirklich etwas dran sein an der türkischen Behauptung, der Artilleriebeschuss kurdischer Stellungen sei lediglich eine Reaktion auf Angriffe von dort über die Grenze?

So erscheint der Anschlag auf den Militärkonvoi in Ankara im neuen Licht: Es scheint, als wolle jemand die Türkei als direkten Teilnehmer in den syrischen Krieg hineinzwingen, indem die politische Stimmung im Land durch “Nadelstiche” immer weiter zugespitzt wird, bis Erdogan irgendwann keine andere Option mehr hat – obwohl er sehr genau um die Aussichtslosigkeit der Mission weiß. Für eine solche Taktik kämen einerseits radikale kurdische Splittergruppen in Frage, andererseits aber auch jene Kräfte, die sich bisher hinter Ankaras Unterstützung für islamistische Milizen versteckt haben – namentlich Saudi-Arabien sowie mit diesem verbündete Kräfte innerhalb der NATO.

Diese hätten so die verlockende Chance, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Russland und Iran würden in einem längeren Krieg geschwächt, der ihren Einfluss auf die derzeit stattfindende strategische Neuordnung des Mittleren Ostens schmälern würde, während die unter Erdogan allzu “eigensinnige” Türkei als Regionalmacht wohl neutralisiert würde. Derweil würde auf globaler Ebene Moskaus Ansehen stark beschädigt, während sich die westlichen Staaten als verantwortungsvolle Friedensvermittler profilieren könnten. Dass der Bau einer Gaspipeline vom Iran nach Europa damit auf Jahre blockiert wäre, während gleichzeitig der Ölpreis deutlich steigen würde, sollte ebenfalls nicht vergessen werden.

Europa muss Ankara aus der Zwickmühle helfen

Damit ist Erdogan in einer wenig beneidenswerten Situation, eingeklemmt von inneren und äußeren Zwängen, in der er nur zwischen unterschiedlich schlechten Optionen wählen kann. In seinem Kampf ums politische Überleben kann er es sich kaum erlauben, zimperlich zu sein, und so überrascht es wenig, dass er die in seinem Land gestrandeten Flüchtlinge skrupellos als politisches Druckmittel gegenüber den Europäern einsetzt. Sicherlich hat er sich durch seine Großmachtphantasien und eine gewisse Portion Naivität auch selbst in diese Lage gebracht, aber das ändert nichts daran, dass die Türkei im syrischen Krieg bisher eine Schlüsselrolle spielte und auch bei seiner Lösung spielen kann.

Ankara kann trotz aller Rhetorik keinen “großen” Krieg gegen Russland riskieren, und damit ergeben sich neue und teils überraschende Interessenüberschneidungen. Nicht nur, aber gerade Europa sollte daher Erdogan entgegenkommen und eine Lösung mit und nicht gegen ihn suchen – keine leichte Mission angesichts der Tatsache, dass der türkische “Sultan” inzwischen quer durch das politische Spektrum unpopulär wie kaum ein Zweiter ist. Doch ihn in die Ecke zu treiben, so dass ihm irgendwann keine andere Wahl als die militärische “Flucht nach vorn” mehr bleibt, wäre erst recht verheerend und würde letztlich nur der saudischen Konkurrenz als “lachendem Dritten” nützen. In der Außenpolitik kann man sich seine Verbündeten eben nicht immer aussuchen.

Die Saudis rüsten zur letzten Schlacht

Riad befindet sich in einer Zwickmühle: Einen direkten militärischen Konflikt mit Teheran kann es keinesfalls riskieren, aber Frieden ist auch keine Option. So droht eine Ausweitung der Stellvertreterkriege

Seitdem die saudische Führung die Hinrichtung des schiitischen Geistlichen al-Nimr und 46 weiterer Personen am 2. Januar angeordnet hat, stehen die Zeichen zwischen den regionalen Rivalen Riad und Teheran auf Eskalation (Nach den saudischen Hinrichtungen: Der Nahe Osten im Eskalationsmodus). Der Erstürmung der saudischen Botschaft durch wütende Demonstranten folgte die Einstellung der diplomatischen und Handelsbeziehungen durch die Saudis. Möglicherweise war dies ein letzter Versuch, die Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran und damit einen Erfolg des „Atomabkommens“ zu verhindern – wenn ja, dann ist er gescheitert.

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Weltkrieg abgesagt

Der #ImplementationDay am 16. Januar 2016 wird lange in Erinnerung bleiben. Die weitgehende Aufhebung der gegen den Iran verhängten Sanktionen ändert die Welt nachhaltig – zum Guten.

Die Bestätigung der IAEA, dass der Iran alle Bedingungen aus dem Abkommen vom 14. Juli 2015 erfüllt hat, und die anschlies- sende sofortige Aufhebung der mit dem Atomprogramm begründeten Sanktionen (andere bleiben in Kraft, aber die sind weniger dramatisch) durch UN, USA und EU leiten eine neue Ära der Weltpolitik ein. Erstmals hat die „westliche Welt“ im  Streit mit einem Land, das sich ihr jahrelang offen widersetzt hat, nachgegeben und einen ausgehandelten Kompromiss akzeptiert. Und das Beste daran: Alle können mit dem Ergebnis gut leben, weil niemand als „Verlierer“ vom Platz geht.

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Libyen: Same procedure as Syria?

Von der Geographie abgesehen, unterscheidet sich die Situation in Libyen gar nicht so sehr von der syrischen vor zwei Jahren. Wie könnte es weitergehen?

Am 17. Dezember einigten sich Vertreter der beiden libyschen Regierungen im marokkanischen Skhirat auf die Bildung einer Einheitsregierung. Was zunächst wie ein möglicher Durchbruch im seit 2011 mit wechselnder Intensität andauernden Bürgerkrieg klingt, hat einen entschei- denden Schönheitsfehler: Keines der beiden konkurrierenden Parlamente steht mehrheitlich hinter dieser “Einigung”, und dass es dazu kam ist offenbar vor allem internationalen Druck (und Geld) zu verdanken. So verwundert es dann auch nicht, dass diese nunmehr dritte libysche Regierung unter Premierminister Fayez Sarraj bislang im Exil in Tunis angesiedelt ist. Daran dürfte sich auch so bald nichts ändern, denn außer einer EU-Zusage von 100 Millionen Euro hat Sarraj wenig Unterstützung vorzuweisen. Ob er jemals um eine internationale Militärintervention bitten wird, wie das Viele offenbar von ihm erwarten, steht in den Sternen.

Libyen nach Gaddafi: Ein gespaltenes Land

Zur Erinnerung: In Libyen gab es nach Gaddafis Sturz seit Mitte 2012 eine fragile Einheits- regierung und ein General National Congress (GNC) genanntes Parlament, dem es jedoch nicht gelang, sich auf eine neue Verfassung zu einigen. Als sein Mandat Anfang 2014 auslief, wurden am 25. Juni Parlamentswahlen zum neuen House of Representatives (HoR) abgehalten – bei sehr geringer Wahlbeteiligung. Die sich zur Koalition Libya Dawn zusammenschließenden islamistischen Parteien akzeptierten ihre Niederlage nicht und trafen sich weiterhin in Tripolis als selbsterklärter neuer GNC. Es gelang ihnen, ihre Gegner militärisch aus der Hauptstadtregion zu vertreiben, so dass das neugewählte HoR nach Tobruk nahe der ägyptischen Grenze fliehen musste und dort im August unter dem Vorsitz von Aguila Saleh Issa seine Arbeit aufnahm.

Seit nunmehr fast anderthalb Jahren hat Libyen also einerseits eine (von Wenigen) gewählte und international anerkannte Regierung in Tobruk, die mithilfe ihrer Armee unter General Haftar die Osthälfte des Landes weitgehend kontrolliert sowie eine Region westlich von Tripolis rund um die wichtige Ölstadt Zawiya (die Stadt selbst jedoch nicht). Andererseits gibt es eine von der Muslimbruderschaft dominierte islamische Regierung in Tripolis, die insbesondere von der Türkei und Katar unterstützt wird und neben der Hauptstadt auch den Großteil des Nord- westens beherrscht. Zwischen beiden bemüht sich seit Februar 2015 ein lokaler Ableger des “Islamischen Staats”, rund um die Stadt Sirte seinen Machtbereich auszuweiten. In jüngster Zeit erregte er verstärkt Aufmerksamkeit durch – bislang erfolglose – Versuche, die Ölhäfen Sidra und Ras Lanuf unter seine Kontrolle zu bringen.

Russische Hilfe und weitere Ähnlichkeiten zu Syrien

Eine Regierung, die nur noch einen Teil des eigenen Landes kontrolliert, eine von Islamisten dominierte und von islamischen Staaten geförderte bewaffnete Opposition, und der IS als lachender Dritter, der sich dank Kämpfern und Waffen “aus unklaren Quellen” ausbreiten kann – dieses Szenario kommt einem bekannt vor. Trotz aller unbestrittenen Unterschiede: Strategisch ähnelt die Lage in der Tat der syrischen, was noch unterstrichen wird durch die Tatsache, dass die Regierung in Tobruk sich bereits positiv über die Unterstützung durch Russland äußerte und auch die Möglichkeit eines direkten russischen Militäreinsatzes ins Spiel brachte.

Bei dieser Option drängen sich jedoch sofort zwei Gegenargumente auf. Zum einen wäre die Regierung in Tobruk trotz Luftangriffen sicherlich nicht stark genug, das gesamte Land unter ihre Kontrolle zu bringen, und dass andere Staaten in nennenswertem Umfang Bodentruppen schicken werden ist nicht zu erwarten. Zum anderen würde die US-Regierung kaum unbeteiligt zusehen, wenn Moskau nach Syrien auch noch in Libyen einen bestimmenden Einfluss gewinnen würde, und ihrerseits militärische Aktivität entfalten. Dass eine so massive äußere Einmischung den libyschen Bürgerkrieg noch verschärfen und zu mehr Opfern und Zerstörung führen würde, sollte dabei selbstverständlich ebenfalls nicht vergessen werden.

Wer würde eine “begrenzte Intervention” gutheißen?

Auch wenn die neue “Einheitsregierung” in Tunis auf die Entwicklung selbst keinen Einfluss nehmen kann, einen Effekt hatte ihre Einsetzung durch die “internationale Gemeinschaft” doch: Es wurde der Druck auf die beiden bestehenden Regierungen und Parlamente erhöht, sich innerlibysch auf ein gemeinsames Vorgehen gegen den “Islamischen Staat” zu einigen, mit oder ohne ausländische Luftangriffe. War das am Ende die dahinterstehende Absicht? Ging es den internationalen Diplomat_innen um Martin Kobler zuvorderst darum, den verfeindeten Blöcken zu sagen “Wenn Ihr den IS nicht bekämpfen wollt, dann backen wir uns eine neue Regierung und machen es selber – also reißt Euch zusammen!”?

Berichten zufolge kam es nach der Unterzeichnung des Skhirat-Abkommens bereits zu neuen Kämpfen zwischen verschiedenen islamistischen Milizen in Tripolis. Wenn der internationale Druck dazu führt, dass die Gruppen sich positionieren müssen, könnte sich so gewissermaßen die “Spreu vom Weizen trennen” und mehr Klarheit darüber entstehen, wer ein Interesse an der Bekämpfung des IS hat – und wer diesen eher als Waffenbrüder sieht. Dann gäbe es zwar immer noch zwei Regierungen, aber diese könnten sich womöglich auf wenn nicht gemein- same, so doch koordinierte Bemühungen zur Zerschlagung des Ablegers des “falschen Kalifats” einigen.

Ob und in welcher Form ein ausländischer Militäreinsatz sinnvoll ist, müssen die Libyer entscheiden, also insbesondere das HoR in Tobruk. Dieser sollte sich jedoch strikt auf IS-Ziele beschränken und, mit Rücksicht auf die Sorgen der USA, unter europäischer Führung stehen. Doch da Russland durchaus gewillt sein könnte, im Interesse des eigenen Einflusses der östlichen Regierung im Alleingang seine Hilfe anzubieten, sollten sich die Europäer beeilen. Die Eile, mit der in den letzten Wochen das Projekt “Einheitsregierung” vorangetrieben wurde, spricht dafür, dass sie sich dessen durchaus bewusst sind.

Auf diesem Weg könnte es möglich sein, mit einer letztlich relativ begrenzten Militärinter- vention nicht nur den IS in Libyen zurückzudrängen, sondern durch die Marginalisierung extremistischer Fraktionen innerhalb des GNC auch die Voraussetzungen zu schaffen für eine künftige Annäherung zwischen den beiden großen Machtblöcken im Land. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die “IS-Versteher” in Tripolis nicht in der Mehrheit sind. In diesem Fall würde die Eingrenzung des Krieges deutlich schwieriger und ein internationaler Kampfeinsatz eher zur Eskalation als zur Lösung beitragen.